Wenn der Glaube fraglich wird ...
- 21. Sept. 2024
- 15 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Sept. 2024
Weshalb Menschen sich vom Glauben abwenden und wie wir als Kirchengemeinde damit umgehen können: Gottesdienst am 22. September 2024 in Staufen. Mit einer Bildbetrachtung von Edward Hopper: "Haus am Bahndamm" aus dem Jahr 1925.

Quelle: Adobe Stock
Begrüßung & Einstimmung
Einen wunderschönen guten Morgen! Ich möchte Sie alle ganz herzlich zum Gottesdienst begrüßen! Auf dem Titelbild sehen sie einen, der sich von der Kirche verabschiedet. Es geht heute aber nicht um Kirchenaustritte, sondern um Menschen, die ihren Glauben verloren haben.
Wir hören von Menschen, die im christlichen Umfeld aufgewachsen sind, denen aber mit der Zeit der Glaube und die Aussagen der Bibel fraglich geworden sind. Wir hören von Menschen, die von der Kirche enttäuscht wurden. Die manchmal aber auch von Gott enttäuscht waren und dann einen bewussten Schritt weg vom Glauben getan haben.
So erging es zum Beispiel Nicolo: Er arbeitet in der Flugzeugbranche, er ist heute um die 30 Jahre alt und stammt aus Italien. Als Kind wuchs Nicolo in seiner Familie in den christlichen Glauben hinein. Im Rückblick fand er sein Leben damals als stimmig. In Gott, der Bibel und der Gemeinde hatte er seinen Lebenssinn gefunden. Als Jugendlicher engagierte er sich in seiner Gemeinde: „Ich habe jeden Tag intensiv gebetet, habe regelmäßig Bibel gelesen und habe eine intensive Beziehung zu Gott gehabt“. (90)
Mit 24 Jahren zog Nicolo nach Deutschland, begann ein Studium und heiratete später eine Frau, der der Glaube auch sehr wichtig war. Eines Tages stieß er auf ein Buch von Richard Dawkins, das sich kritisch mit dem christlichen Glauben auseinandersetzte. Dieses Buch war bei Nicolo der Auslöser zu einer tiefgreifenden Glaubenskrise. Er sagt selber über diese Zeit: „Ich habe weiter als Christ gelebt und habe eigentlich mit niemandem darüber geredet. Ich wollte das mit mir und mit Gott ausmachen. Ich habe viele Bücher gelesen und viel in der Bibel gelesen, über Monate ging das so. Und ich habe viel gekämpft und langsam, langsam merkte ich: Das passt hier nicht. Hier ist was falsch. Und dann habe ich gesagt: Ich glaube nicht mehr an Gott …
Das Buch von Richard Dawkins war der Auslöser für mein Nachdenken … Seine Fragen haben mich nicht mehr losgelassen und ich habe immer mehr darüber nachgedacht, was an meinem Glauben eigentlich Sinn macht. Ich fand meine neuen Gedanken einfach vernünftiger.“ (92) –
Menschen wie Nicolo gibt es inzwischen viele. Wie gehen wir als Kirchengemeinde mit solchen Erfahrungen um? Und welche Konsequenzen ziehen wir daraus? Darüber möchten wir uns heute Gedanken machen. Passend zum Thema möchten wir auch ein eindrucksvolles Gemälde des amerikanischen Künstlers Edward Hopper miteinander betrachten. Ich wünsche uns allen einen gesegneten Gottesdienst!
Gebet & Zuspruch
Wir beten mit Worten von Kurt Marti:
Manchmal kennen wir Gottes Willen, manchmal kennen wir nichts. Erleuchte uns, Herr, wenn die Fragen kommen.
Manchmal sehen wir Gottes Zukunft, manchmal sehen wir nichts. Bewahre uns, Herr, wenn die Zweifel kommen.
Manchmal spüren wir Gottes Liebe, manchmal spüren wir nichts. Begleite uns, Herr, wenn die Ängste kommen.
Manchmal wirken wir Gottes Frieden, manchmal wirken wir nichts. Erwecke uns, Herr, dass dein Friede kommt. (EG 642)
Herr Jesus Christus, du schenkst uns nicht nur schöne und ermutigende Erfahrungen im Glauben, du lässt es auch zu, dass wir in dunkle Täler und tiefe Anfechtungen geraten.
Wir bitten dich: Lass uns gerade in solchen finsteren Zeiten nicht allein. Sei du unser Halt, wenn uns die Gewissheit im Glauben einmal verloren geht.
Sei du unser Licht, wenn sich Fragen über Fragen vor uns auftürmen.
Stelle uns Geschwister im Glauben an die Seite, die uns gerade dann in Liebe begleiten; die uns nicht überfordern, sondern uns auch in unserem Zweifel ertragen.
Hilf doch, dass solche Zeiten der Anfechtung nicht über unsere Kräfte gehen, sondern wir vielleicht sogar gestärkt daraus hervorgehen. Herr, erbarme dich! –
Psalm 73 erzählt die Geschichte von einem Menschen, der in eine tiefe geistliche Krise geraten ist. Doch mitten in der Krise machte er die Erfahrung, dass Gott ihn festhielt. Und hinterher gerät er richtig ins Schwärmen:
Jetzt aber bleibe ich immer bei dir, und du hältst mich bei der Hand. Du führst mich nach deinem Plan und nimmst mich am Ende in Ehren auf.
Herr, wenn ich nur dich habe, bedeuten Himmel und Erde mir nichts. Selbst wenn meine Kräfte schwinden und ich umkomme, so bist du, Gott, doch allezeit meine Stärke – ja, du bist alles, was ich brauche!
Ich darf dir immer nahe sein, das ist mein ganzes Glück! Dir vertraue ich, HERR, mein Gott; von deinen großen Taten will ich allen erzählen. Amen.
Predigt: Abschied vom Glauben?
Wenn der Glaube fraglich wird, ist unser Thema heute Morgen. Von Nicolo hatten wir schon gehört: Nach dem Lesen der Bücher von Richard Dawkins konnte er nicht mehr an Gott und die Aussagen der Bibel glauben. [Alle persönlichen Berichte dieser Predigt sind dem Buch von Tobias Faix u.a. entnommen: „Warum ich nicht mehr glaube“, SCM 2014]
Bei Andreas waren es dagegen schwere Erfahrungen, weshalb er an Gott gezweifelt hat: Seine jüngste Schwester starb an einem Hirntumor. Das war aber nur der erste in einer ganzen Reihe von Schicksalsschlägen, die Andreas mehr und mehr an der Existenz eines Gottes zweifeln ließen. Konnte ein Gott, der sich angeblich um die Menschheit und speziell auch um ihn kümmert, so etwas zulassen?
Dieser Zweifel in ihm wurde immer größer. Andreas beschreibt es so: „Ich kann das nicht vereinbaren mit einem Gott der Liebe … Mein Problem ist, ich habe einfach kein Vertrauen zu Gott. Ich verstehe ihn nicht, ich verstehe seine Wege nicht, die ich verstehen möchte. Aber Gott hat sich mir nicht erklärt. Und so funktioniert eine Beziehung irgendwie nicht.“
Nach seiner bewussten Abwendung vom Glauben empfindet er es sogar als Erleichterung: „Im Grunde genommen hat es mir sogar vielleicht geholfen, über die Schicksalsschläge hinwegzukommen, weil ich das Gefühl habe, ich muss niemanden mehr die Schuld geben … Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, irgendwie das Göttliche in Sachen zu sehen“. (115)
Die Gründe für eine Abwendung vom Glauben sind vielfach:
1) Manche wurden von ihren Mitchristen enttäuscht: Sie fanden ihr Christsein nicht überzeugend und echt. Manche haben auch verletzendes Verhalten von Mitchristen oder Gemeindeleiter erfahren.
Andere haben ihre Gemeinde als zu eng empfunden: Vieles war vorgeschrieben. Kritik an der Gemeindeleitung war unerwünscht. Man konnte nicht offen über Dinge reden.
2) Bei anderen waren es dagegen eher intellektuelle Gründe: Sie begannen an den Aussagen der Bibel zu zweifeln. Sie konnten die Lehre der Kirche und die moderne Wissenschaft nicht mehr in Einklang bringen. So hat es Nicolo durch die Bücher von Richard Dawkins erlebt.
Bei Andreas waren es ebenfalls Probleme mit dem Denken: Er konnte das Leiden in dieser Welt nicht mehr mit einem allmächtigen und zugleich liebenden Gott in Verbindung bringen.
3) Wieder andere waren nicht von ihren Mitchristen, sondern vom Glauben selbst enttäuscht: Sie spürten wenig von Gott und seiner Gegenwart und seinem Handeln in ihrem Leben.
Einer sagte: „Immer wurde auf Wunder und große Taten Gottes hingewiesen, aber in meinem Leben passierte nichts“. (66).
4) Schließlich gibt es eine ziemlich große Gruppe von Menschen, bei denen es eher ein schleichender Prozess war: Sie haben sich nicht bewusst vom Glauben abgewendet. Er hat sich im Laufe des Lebens einfach verflüchtigt.
Als Kind und als Jugendlicher war man noch voll dabei. Aber in den zwanziger Jahren des Lebens und später ist dieser Glaube ganz allmählich „verdunstet“. Man hat die Bibel oder das Gebet einfach nicht mehr als relevant fürs Leben empfunden. Und mit der Zeit ist dann alles eingeschlafen.
Wie auch immer: Die Gründe waren und sind sehr vielfältig. Wir möchten uns heute vor allem darüber Gedanken machen, wie man als Gemeinde und als Mitchristen mit dieser Situation umgeht: Wenn sich einer bewusst vom Glauben abwendet. Oder wenn sich einer langsam vom Glauben entfremdet, wenn die Gewissheit des Glaubens mit den Jahren verloren geht.
Dazu möchten wir jetzt als nächsten Schritt ein Gemälde des amerikanischen Künstlers Edward Hopper miteinander betrachten: "Haus am Bahndamm" aus dem Jahr 1925:

Man sieht eine große, prächtige Villa, die allerdings ihre besten Zeiten längst hinter sich hat. Es waren sicher keine armen Leute, die sich ein solches Bauwerk leisten konnten. Rechts sieht man einen großzügigen Balkon, der auf Säulen steht. Darüber ein mächtiger Turm mit mehreren Zimmern. Die Farben sind blass gehalten, die Vorhänge größten Teil zugezogen oder heruntergelassen. Nirgends kann man ins Innere schauen. Die Sonne scheint von links, beleuchtet aber nur den kleineren Teil des Hauses. Man sieht keine Bäume, keine Sträucher, keine Blumen, nichts Lebendiges.
Sofort ins Auge springen die Schienen, die offenbar direkt vor das Haus gebaut wurden. Und diese Bahnlinie ist wohl auch der Grund dafür war, dass die Eigentümer inzwischen ausgezogen sind. Zumindest wirkt die Villa ziemlich verlassen.
Es ist ein großes Thema in den Bildern von Edward Hopper, wie die moderne Technik die Welt verändert. Auf vielen seiner Bilder greift er den Konflikt zwischen der unberührten Natur und den Folgen der Zivilisation auf.
Deshalb ist mir dieses Bild auch sofort ins Auge gesprungen: Beim Glauben ist es ja auch manchmal so: Durch die Gedanken der Moderne oder durch neue Einsichten der Wissenschaft hat der Glaube und das Gottvertrauen bei vielen deutliche Risse bekommen. Dazu kommen wir gleich noch zu sprechen.
In einem Buch ist dieses Gemälde von Edward Hopper folgendermaßen beschrieben: „Der Eindruck von Verlorenheit, den dieses Haus hervorruft, entsteht auch durch den Schienenstrang. Er durchschneidet nicht nur das Bild und verdeckt den unteren Teil des Hauses; der Bahndamm erscheint zugleich wie ein Stück zerstörte Natur. Die kräftigen Farben der rostigen Schienen und des braunen Dammes stehen zudem in deutlichem Kontrast zu den blassen, bläulich-grauen Farben des Hauses … Verlassen und von der Zivilisation überrollt wirkt das Haus am Bahndamm auch durch seine Fenster, die teilweise das Licht reflektieren … Unterstrichen wird die melancholische Gesamtansicht noch durch die Farbe des Himmels, der einen großen Teil der Bildfläche beherrscht … Das Rot der Kamine ist zum leeren Zeichen für etwas Verlorenes geworden …“ (Rolf Günter Renner: Edward Hopper, Taschenverlag 2011)
Als ich das Bild von Edward Hopper zum ersten Mal gesehen habe, kamen mir sofort Menschen in den Sinn, die gewissermaßen auch aus ihrem „Glaubenshaus“ ausgezogen sind. Das ist ja immer auch etwas Trauriges. Zumindest für die Familie, für Freunde und Bekannte ist das ja oft auch mit sehr schmerzhaften Erfahrungen verbunden.
Die Schienen auf dem Bild stehen für mich dabei für alles, was den bisherigen Glauben in der modernen Zeit herausfordert: Wissenschaft, Literatur, vielleicht Psychologie. Alles, was man gerne „Zeitgeist“ nennt.
Keiner kann etwas dafür, dass diese Gedanken plötzlich im Raum stehen und die bisherige Gewissheit im Glauben tief erschüttern. So wenig die Bewohner dieser Villa etwas dagegen unternehmen konnten, dass man ihnen direkt vors Haus die Bahnlinie gebaut hat, genauso wenig kann einer etwas dafür, dass in der modernen Gesellschaft plötzlich ganz neue Ideen und Ansichten im Raum stehen.
Solche Krisen im Leben kommen einfach: Wir haben vorhin in der Lesung davon gehört. Der Glaube wird immer wieder neu herausgefordert, ob wir das wollen oder nicht. Die Aufgabe besteht deshalb immer auch darin, sich mit diesen neuen Einsichten auseinanderzusetzen. Sie aus dem Blickwinkel des Glaubens vielleicht auch kritisch zu betrachten. Es ist ja nicht alles Neue automatisch gut und richtig. Wobei freilich auch das Alte nicht an sich schon besser ist.
Aber immerhin erinnern die roten Kamine auf dem Bild an die Wärme und das pulsierende Leben, das vormals in diesem Haus sicher geherrscht hat. An die Geborgenheit und das Gefühl von Heimat, das diese schöne Villa einmal geschenkt hat.
Für mich wirken diese roten Kamine wie eine Einladung an alle, die eines Tages aus ihrem „Glaubenshaus“ ausgezogen sind und dem Glauben den Rücken gekehrt haben: Vielleicht könnten sie mit etwas Abstand noch einmal einen neuen Blick auf die Gründe werfen, die damals zur Abkehr vom Glauben geführt haben. Und vielleicht könnte die Erinnerung an das Schöne des Glaubens in früheren Zeiten die Sehnsucht wecken, den Schritt noch einmal zu überdenken. Denn mit jedem Auszug macht man zwar neue Erfahrungen. Aber man verliert meistens auch Dinge, die man im neuen Haus und in der neuen Zeit nicht mehr hat.
Deshalb soll das an der Stelle dick unterstrichen werden: Was immer auch geschehen ist, unsere Türen stehen jederzeit offen. Und mit etwas Abstand kann man vielleicht auch kritischer auf das schauen, was man durch seine Abkehr vom Glauben gewonnen hat. Oder vielleicht auch nicht.
Dieses Thema möchte ich heute aber nicht weiter vertiefen. Im zweiten Teil der Predigt wollen wir vielmehr darüber nachdenken, wie wir als Gemeinde in guter Weise mit solchen Erfahrungen umgehen sollen. Mir sind fünf Punkte wichtig geworden, die ich zumindest kurz anreißen möchte:
1) Wir müssen es als Eltern und Freunde, aber auch als Gemeinde immer wieder lernen, loszulassen. Und gleichzeitig auch weiterhin in Liebe verbunden bleiben.
Mit Vorwürfen oder gar Liebesentzug erreicht man meistens genau das Gegenteil. Wenn einer in eine Glaubenskrise gerät, können wir oft nur noch für die Person beten. Zugleich sollten wir jederzeit unsere Bereitschaft zum Gespräch signalisieren. Aber dann müssen wir loslassen.
Mir steht in solchen Situationen immer wieder der Vater im Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn vor Augen: Er lässt seinen Sohn ziehen, obwohl er dessen Entscheidung nicht gutheißt. Aber er bleibt gewissermaßen unter der Haustür stehen: Er begleitet ihn mit seinen Gedanken und bleibt ihm auch weiterhin in Liebe verbunden.
Patrick erzählt in dem schon erwähnten Buch, dass seine Christen-Freunde sehr unterschiedlich reagiert hätten: Die einen sagten: „Das ist krass, dass du nicht mehr glauben möchtest. Es ist schade und es tut mir leid für dich. Aber es macht jetzt zwischen uns keinen großen Unterschied. Ich kann Christ sein und du musst kein Christ sein, das ist ja okay“.
Andere fragten dagegen in einer großen Ernsthaftigkeit, was das nun für ihre Freundschaft bedeutet. Denn mit dem Glauben brach auch eine gemeinsame Sicht auf das Leben weg. (123) Man darf auch solche Fragen stellen. Aber wir müssen loslassen und gleichzeitig in Liebe verbunden bleiben.
2) Es muss in einer Gemeinde möglich sein, auch über seine Zweifel zu reden und über sein Versagen, ohne gleich verurteilt zu werden. Dazu ist eine Atmosphäre des Vertrauens und der Ehrlichkeit nötig.
Es sollte uns zu denken geben, dass negative Erfahrungen mit Christen ganz oft als Grund genannt werden, weshalb sich Menschen vom Glauben abgewendet haben.
Immer wieder wurden Christen als verlogen, als heuchlerisch und als pharisäisch erlebt. Eine Frau sagte zum Rückblick: In meiner Gemeinde wurde so viel Liebe, Frieden und Eintracht gepredigt. Aber ich habe wenig Wahres davon gesehen. (61)
Ein Mann sagte: „Ich glaube nicht mehr, weil ich persönlich erleben musste, wie viel Schlimmes sich Christen gegenseitig antun. Gemeindesysteme können Menschen verletzen … Ich will nicht mehr Teil dieses Systems sein.“ (62)
Solchen Erfahrungen kann man nur vorbeugen, wenn man sich stets um eine Atmosphäre der Offenheit und Ehrlichkeit bemüht. Die Ehrlichkeit in den Geschichten der Bibel kann uns dabei sicher ermutigen: Von den großen „Glaubenshelden“ werden fast immer auch ihre Fehler und ihr Scheitern erzählt.
3) Eine Gemeinde braucht nicht nur offene Türen, sondern auch eine Weite für unterschiedliche Formen des Glaubens.
Damit meine ich nicht, dass alles egal ist und eine Gemeinde überhaupt kein Profil mehr hat. Hauptamtliche und Ehrenamtliche dürfen ihre ganz persönliche Prägung haben. Und sie sollen das auch vertreten und sich dafür einsetzen.
Aber es darf nie dazu führen, dass andere verurteilt oder ausgegrenzt werden. Zudem können unterschiedliche Frömmigkeitsstile in einer Gemeinde ja auch bereichernd sein – solange man fair und wertschätzend miteinander umgeht.
In meiner ersten Gemeinde hat man mir von einer Person erzählt, die bewusst auf Distanz zu ihrer Gemeinde gegangen war und dann nach vielen Jahren wieder einmal zum Gottesdienst kam. Sie sei unter der Kirchentür von einer Mitarbeiterin mit den unbedachten Worten begrüßt worden: „So, sieht man dich auch wieder mal hier?“
Wir brauchen nicht nur offene Türen, sondern auch eine Weite für unterschiedliche Formen des Christseins. Ich finde, wir können und sollen beides tun: Wir dürfen für unsere ganz persönlichen Einsichten werben, sie zeigen und davon reden.
Aber wir sollten gleichzeitig ein ganz großes Herz für alle anderen behalten, die das anders sehen, weil sie andere Erfahrungen gemacht haben und anders geprägt sind.
4) Wir dürfen es ruhig zugeben, dass wir längst nicht auf alle Fragen des Glaubens eine schlüssige Antwort haben.
Der Theologe Karl Rahner hat es einmal so formuliert: Glauben heißt nichts anderes, als die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten. Bei allen Gebetserhörungen, bei allen wunderbaren Erlebnissen, in denen wir Gottes Eingreifen erlebt haben, gibt es immer auch Dinge, die wir nicht verstehen und wo wir auch als erfahrene Christen ratlos bleiben: Warum hat Gott das zugelassen? Warum greift er nicht endlich ein? Warum müssen einzelne Menschen so viel leiden? Warum zeigt Gott nicht mehr von seiner Allmacht?
Auch das gehört zur Ehrlichkeit des Glaubens dazu: Wir haben nicht auf alles eine schlüssige Antwort. Wir müssen als Christen auch die Unbegreiflichkeit Gottes aushalten. Ich glaube, das macht uns glaubwürdiger und einladender, als wenn wir meinen, wir müssten immer den starken und in jederzeit Hinsicht überzeugten Christen zeigen.
5) Mit dem fünften und letzten Punkt schlagen wir noch einmal die Brücke zur Lesung aus Lukas 8: dem Gleichnis vom Sämann bzw. vom vierfachen Ackerfeld (siehe unten): Wir sollten damit rechnen, dass es in dieser Welt eine Kraft gibt, einen Widersacher Gottes, der alles das zerstören möchte, was Gott an Gutem geschaffen und geschenkt hat.
Es überrascht mich immer wieder, wie oft und wie selbstverständlich Jesus davon redet: Er nennt es den Teufel, andere reden von der Kraft des Bösen. Entscheidend ist für uns alle, dass es diese Kraft gibt. Und dass er stets seine Hände im Spiel hat, wenn Menschen ins Zweifeln kommen. Wenn in den Krisen des Lebens das Fundament ihres Glaubens erschüttert wird.
Wir sollen davor nicht erstarren, wie das Kaninchen vor der Schlange. Aber wir sollen sie ernst nehmen und damit rechnen. Und uns dagegen wappnen. –
Doch am Ende soll nicht die Angst vor dem Widersacher Gottes stehen, sondern die Zusage Gottes: „Gottes weiter Raum schenkt uns Sicherheit, lässt uns vorwärts gehn. Seine Hand hält uns in dem Sturm der Zeit, nichts wird uns geschehn. Denn wer ihm glaubt und ihm vertraut, hat auf Fels und nicht auf Sand gebaut“. (NL 29) Amen.
Fürbittengebet & Vater Unser
Herr Jesus Christus, wir denken heute besonders an solche Menschen, denen der Glaube fraglich geworden ist und die sich für einen anderen Weg entschieden haben: Geh du ihnen nach und lass sie nicht aus den Augen. Erinnere sie immer auch daran, was sie damals an schönen Erfahrungen mit dir und dem Glauben gemacht haben.
Wir bitten dich für alle, die gerade im Moment in eine tiefe Anfechtung geraten sind: Hilf ihnen und bewahre sie davor, dass die kritischen Gedanken die Überhand gewinnen. Lass sie nicht allein bleiben in ihrem Zweifel, sondern umso mehr das Gespräch mit anderen suchen.
Wir bitten dich für unsere Gemeinde: Hilf uns doch, unser Christsein ehrlich und echt und überzeugend zu leben. Hilf uns, einladend zu sein für alle, die den Glauben kennenlernen wollen. Hilf doch, dass man es uns auch abspürt, dass uns immer auch der einzelne Mensch wichtig ist.
Segne das Miteinander in unserer Gemeinde trotz aller Unterschiedlichkeit. Hilf uns, die andern zu achten, damit wir uns gegenseitig bereichern können.
Herr Jesus Christus, wir bitten dich heute besonders für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserer Gemeinde und in der ganzen Landeskirche: Hilf uns, ihnen gute Gesprächspartner zu sein, wenn sie sich mit den Anfragen der modernen Zeit auseinandersetzen.
Wir bitten dich für die christlichen Gruppen in den Universitätsstädten: Segne ihre Arbeit und zeige ihnen immer wieder die passenden Mittel und Wege, die Studierenden zu erreichen.
Mache immer wieder auch Jugendliche bereit, sich im geistlichen Dienst hauptberuflich für deine Sache einzusetzen.
Wir bitten dich auch heute um Frieden in der Welt: In der Ukraine geht es ständig auf und ab und ein baldiges Ende der Kämpfe ist überhaupt nicht in Sicht. Und auch im Krieg zwischen Israel und der Hamas und jetzt auch der Hisbollah droht die Sache immer mehr zu eskalieren:
Segne alle, die sich für Frieden und Versöhnung einsetzen. Schenke Besonnenheit und zugleich auch die Bereitschaft, ernsthafte Schritte in Richtung auf einen Frieden zu gehen.
Vater unser im Himmel …
Lesung aus Lukas 8
Wir hören als Lesung einen Abschnitt aus dem Lukasevangelium, Kapitel 8: In dem bekannten Gleichnis vom Sämann erzählt Jesus davon, dass es beim Glauben auch Probleme geben kann: Nicht jedes Weizenkorn wächst bis zur Ernte zu einer reifen Ähre.
Übertragen auf unser Leben: Nicht jeder hält den Glauben durch alle Höhen und Tiefen des Lebens durch. Jesus sagt in Lukas 8:
4 Als nun eine große Menge beieinander war und sie aus jeder Stadt zu ihm eilten, sprach er durch ein Gleichnis: 5 Es ging ein Sämann aus zu säen seinen Samen. Und indem er säte, fiel einiges an den Weg und wurde zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen’s auf.
6 Und anderes fiel auf den Fels; und als es aufging, verdorrte es, weil es keine Feuchtigkeit hatte.
7 Und anderes fiel mitten unter die Dornen; und die Dornen gingen mit auf und erstickten’s.
8 Und anderes fiel auf das gute Land; und es ging auf und trug hundertfach Frucht. Da er das sagte, rief er: Wer Ohren hat zu hören, der höre!
11 Das ist aber das Gleichnis: Der Same ist das Wort Gottes. 12 Die aber an dem Weg, das sind die, die es hören; danach kommt der Teufel und nimmt das Wort von ihrem Herzen, damit sie nicht glauben und selig werden.
13 Die aber auf dem Fels sind die: Wenn sie es hören, nehmen sie das Wort mit Freuden an. Sie haben aber keine Wurzel; eine Zeit lang glauben sie, und zu der Zeit der Anfechtung fallen sie ab.
14 Was aber unter die Dornen fiel, sind die, die es hören und gehen hin und ersticken unter den Sorgen, dem Reichtum und den Freuden des Lebens und bringen keine Frucht zur Reife.
15 Das aber auf dem guten Land sind die, die das Wort hören und behalten in einem feinen, guten Herzen und bringen Frucht in Geduld. Amen.
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Gott segne Sie! Ihr Theo Breisacher, Pfarrer in Staufen und Münstertal









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