Jesus weint am Ölberg über die Menschen ...
- 6. Apr.
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Gedanken zu einer eindrucksvollen Figur von Prof. Franz Gutmann aus Münstertal am Eingang der Klosteranlage St. Trudpert in Münstertal.

(1) Wenn man in Münstertal den Weg zur Pfarrkirche St. Trudpert hochgeht, fällt der Blick unweigerlich auf die Skulptur des weinenden Christus am Eingang der Klosteranlage. Kaum ein Besucher, der nicht sein Handy zückt oder in stiller Andacht die Tränen verfolgt, die im Abstand von einigen Sekunden in die als Hände geformte Brunnenschale fallen. Der im vergangenen Sommer verstorbene Künstler Prof. Franz Gutmann aus Münstertal hat die 1,70 Meter hohe Skulptur im Herbst 1982 geschaffen.
Eine Brunnenschale, deren Wasser sich aus Tränen speist: ohne Frage eine originelle Idee. Zugleich ein starkes Bild für eine zentrale Botschaft unsers Glaubens: Wir haben einen Gott, der mitleidet. Als Christen glauben wir an einen Gott, der nicht wegschaut, wenn Menschen leiden müssen. In seinem Sohn Jesus Christus hat er Leid und Not und schlimmste Schmerzen am eigenen Leib erfahren. Darin liegt das Einzigartige am Leiden Jesu: Gott drückt uns nicht nur seine Anteilnahme aus. In Jesus leidet er selber.
Für viele Menschen ist das gerade in den Brüchen und Verlusten ihres Lebens ein ganz großer Trost geworden: Jesus ist auf meiner Seite. Er sieht mich auch jetzt in meinem Elend. Und er versteht mich. Ich muss mich nicht verstellen. Aus seinem irdischen Leben sind uns in der Bibel nicht nur große Erfolge überliefert, sondern auch seine Tränen. Das macht ihn nicht nur sympathisch, sondern sorgt auch für das Gefühl von Verstanden-Sein und großer Nähe.
Das war in der christlichen Tradition allerdings nicht immer so: In der NS-Zeit rückte man vor allem das Bild eines heroischen Christus in den Mittelpunkt. In einem Text aus jener Zeit heißt es: „Jesus erscheint uns heute als selbstbewusster Herr im besten und höchsten Sinne des Wortes. Sein Leben ist es, das für germanische Menschen Bedeutung besitzt, nicht sein qualvolles Sterben … Der gewaltige Prediger und der Zürnende im Tempel, der Mann, der mitriss und dem alle folgten, ist heute das bildende Ideal, nicht das Opferlamm der jüdischen Prophetie, nicht der Gekreuzigte …“
Mit abstrusen Argumentationen versuchte man damals zu begründen, dass Jesus der Sohn eines römischen Legionärs gewesen sei, der in jener Zeit in Galiläa, im Norden Israels, stationiert war. Allenfalls seine Mutter könne jüdische Wurzeln gehabt haben. Es ging den Verfechtern der sogenannten „Deutschen Christen“ aber gar nicht darum, exakte Geschichtswissenschaft zu betreiben. Vielmehr war ihnen ein leidender, erst recht ein mitleidender Messias ein Dorn im Auge. Dass sie damit den Kern des christlichen Glaubens zerstörten, war ihnen gleichgültig.
Der Brunnen von Franz Gutmann hat eine ganz andere Botschaft: Die offenen Hände der Brunnenschale haben mich an ein Gebet aus Psalm 56, Vers 9 erinnert: „Sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie“: Es ist interessanterweise nicht der eigene Krug, den der Beter mit Tränen füllt. Er stellt sich vielmehr vor, dass Gott einen großen Krug hat, in dem die Tränen der Menschen gesammelt werden. In den Augen Gottes scheinen Tränen etwas Wertvolles zu sein. Man muss sich ihrer nicht schämen. Man muss sie nicht verstohlen abwischen.

Foto: Modo-Verlag mit freundlicher Abdruckerlaubnis von Frau Karin Gutmann-Heinrich
(2) Damit bin ich bei einem zweiten Gedanken: Schwäche zu zeigen, muss einem nicht peinlich sein. Keiner muss immer stark sein. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich meinen Onkel bei einer Beerdigung herzerweichend weinen sah. Ein kleines Kind war kurz nach der Geburt verstorben; mein Onkel war damit beauftragt, bei der Beerdigung den kleinen Sarg von der Kirche zum Grab zu tragen. Ich war in meiner Familie keineswegs so erzogen, dass Männer nicht weinen dürfen. Dennoch hat es mich damals sehr berührt. Positiv berührt: Man muss seinen Schmerz nicht verbergen. Auch nicht als Mann. Auch nicht, wenn man von allen gesehen wird.
Es gibt Länder auf dieser Welt, da werden behinderte Kinder von ihren Eltern versteckt, weil sie sich schämen. Manche Eltern in diesen Ländern halten die Behinderung eines Kindes gar für einen Fluch. Oder für eine Bestrafung der Götter. Bei uns muss das zum Glück niemand tun. Aber manche Familien mit „Sorgenkindern“ beschleicht manchmal das Gefühl, dass sie nicht richtig dazu gehören. Oder es ist ihnen peinlich, weil ihr Kind so viel zusätzliche Zuwendung braucht. Oder sie sind traurig, weil sie wohl niemals mit den Noten ihrer Kinder oder ihren sportlichen Erfolgen glänzen können, so wie es andere Eltern oft tun.
In solchen Situationen kann ein schlichtes Kreuz oder eben die Skulptur mit dem weinenden Christus eine ganz starke Botschaft vermitteln: Wenn Gott seine Wunden nicht versteckt, dann müssen wir es auch nicht. Auch Schmerzen und Krankheit gehören zum Leben dazu. Man muss sie nicht verklären. Gewiss nicht! Sie können extrem anstrengend sein. Aber man kann sie auch als Aufgabe verstehen, sich darin zu bewähren. Und so kann uns der leidende Christus vielleicht sogar darin zum Vorbild werden, dass man trotz Krankheiten, Einschränkungen und Schwächen ein gesegnetes und erfülltes Leben führen kann.
(3) Und noch einen letzten Gedanken über diese Skulptur möchte ich mit Ihnen teilen: Franz Gutmann hat seinem Werk den Titel „Weinender Jesus am Ölberg“ gegeben. Damit nimmt er Bezug auf eine Szene beim Einzug in Jerusalem, als Jesus über die Menschen weint: „Und als er nahe hinzukam und die Stadt sah, weinte er über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest an diesem Tag, was zum Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen.“ (Lukas 19, 41+42)
In dieser Geschichte weint Jesus also gar nicht über die eigenen Schmerzen, die ihm die Soldaten wenige Tage später bei der Geißelung oder bei der Kreuzigung zufügen werden. Es ist die Not der Welt und die mangelnde Einsicht der Menschen, die ihm die Tränen in die Augen treibt. Auch darin kommt das Mitleiden Gottes auf berührende Weise zum Ausdruck: Gott leidet emotionale Qualen, weil sich seine Geschöpfe gegenseitig immer wieder so viel Leid zufügen.
Neulich sagte ein älterer Herr zu mir: „Wieso hat Gott einen Menschen erschaffen, der zu solch grauenhaften Untaten in der Lage ist, wie wir sie ständig erleben? Wenn Gott allmächtig ist, hätte er doch ein anderes Wesen erschaffen können!“ Und bevor ich richtig antworten konnte, gab er sich selber die Antwort: „Ich weiß, die Freiheit des Menschen …“.
Wir werden diese Frage niemals befriedigend beantworten können, weshalb unsere Welt keine andere ist, wenn sie sich tatsächlich einem Schöpfer verdankt. Aber diese eine Antwort gibt Gott selber: Er leidet mit dieser Welt. Und er leidet an dieser Welt. Dabei macht ihn sein Mitleiden nicht etwa tatenlos: Im Leiden seines Sohnes hat er die Schuld der ganzen Welt getragen. Aber wenn die Menschen diese Einladung zur Versöhnung nicht annehmen, kann selbst der allmächtige Gott nur noch tatenlos zusehen – und über die fehlende Einsicht seiner Geschöpfe weinen.
In unseren Kirchen hat man jahrelang zurecht betont, dass Betroffenheit und große Worte allein nichts zum Guten wenden: Man muss aktiv werden, damit die Welt zumindest ein kleines Stück besser wird. Das hat mich auch selber geprägt. Im Moment erlebe ich aber auch das andere sehr schmerzhaft: Man fühlt sich zunehmend machtlos, wenn man sieht, wie die Machthaber in den USA, in Russland oder aktuell in der Türkei Grundwerte der Demokratie und Rechtstaatlichkeit mit Füßen treten. Gleichzeitig sind die globalen Herausforderungen so groß, dass einem schwindelig werden kann.
Gerade in dieser weltpolitischen Situation spricht mir der weinende Christus in einer ganz neuen Weise aus dem Herzen: Es gibt Situationen, da können wir überhaupt nichts verändern. Und doch sind unsere Tränen nicht verloren: Sie sind ein stummer Protest gegen alles, was falsch läuft. Und aus dieser inneren Betroffenheit bekommen wir vielleicht doch auch einen Blick für das Kleine und Wenige, das jeder von uns dennoch zum Guten verändern kann.
März/April 2025 Theo Breisacher

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Gott segne Sie! Ihr Theo Breisacher, Pfarrer in Staufen und Münstertal









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